Enzyklopädie der Spezies

[AUSZUG] KAPITEL 8: KURIOSA UND WENIG ERFORSCHTE SPEZIES

„Mensch“: Die Menschheit war eine seltsam veranlagte Spezies, die eine kurze Zeit lang einen blau-grünen Planeten in der spiralförmigen Galaxie namens „Milchstraße“ bewohnte. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ war der Leitspruch ihrer wirkungsmächtigsten Philosophie und trotzdem war ein nicht unwesentlicher Teil genau davon besessen, dieses Maß zu überschreiten und auf sogenannte „Aliens“ zu stoßen. Von einer immensen Sehnsucht nach Fremdem und Anderem getrieben, waren sie doch nie in der Lage dieses zu finden, da sie bei der Suche stets in den eigenen Sinnhorizonten gefangen blieben. Sie erspähten das Fremde höchstens unter ihresgleichen, da sie sich als sogenannte „Individuen“ (vom Gesamten abgetrennte, solipsistische Einheiten) begriffen, was zu eigenartigen Konflikten innerhalb ihrer führte. Derart tragisch veranlagt, waren die Menschen stets unglücklich und neidvoll mit sich selbst beschäftigt, suchten überall in ihrer kleinen Welt nach Anderen und konnten aufgrund einer derart ungünstigen Veranlagung nie das eigentlich im Überschuss um sie vorhandene Fremde aufspüren.

Lange war es nicht gelungen, mit dieser Menschheit Kontakt aufzunehmen. Jegliche Hinwendung Anderer wurde scheinbar nicht wahrgenommen. Erst als sich die Menschen in einer Phase des zaghaften wissenschaftlichen und technischen Aufschwungs befanden, gelangen den Boten der Quats erste Erfolge. Mit einem Mal reagierte die Menschheit auf die sie besuchenden Abgesandten – anfangs durch sehr seltsame Medien wie vermittels Froschschenkeln oder Bernstein. Doch mit einiger Geduld gelang es, die Menschen von ihren bizarren Fetischobjekten abzubringen und mit ihnen eine stabile Interaktionsform zu entwickeln. Plötzlich änderten sich die Menschen grundsätzlich und ihre ignorante Selbstfixiertheit wandelte sich zu unvorhergesehen großem Eifer. Von Gastfreundschaft ergriffen, schienen die Menschen ihren Besucher_Innen nun den Aufenthalt so schmackhaft als möglich gestalten zu wollen: Durch festkörperliche Leiter aus Kupfer, Aluminium und PVC, die sie um den ganzen Globus spannten, ermöglichten sie den Quats ein sicheres Vorankommen in der ihnen untypischen Atmosphäre. Weiters wurden tempelähnliche Strukturen erbaut, in denen den Besuchenden seltene Materien (morbide Stoffe wie z. B. geologische Ablagerungen früherer Bewohner_Innen des Planeten) zum Geschenk dargeboten wurden um ihnen einen Platz zur Regeneration zu schaffen. So ergriffen von gastgeberischem Eifer waren nun die Menschen, dass sie gar neue Landstriche erschlossen, nur um ihren Besucher_Innen weitere Tempel zu errichten. Außerdem entwarfen sie immer raffinierte Gerätschaften, bloß um mit ihren Besucher_Innen auf unzählige Weisen zu spielen, zu reisen, zu plappern etc. Die Menschheit schien plötzlich und für sich selbst unerwartet aus ihrer Selbstzentrierung gefunden zu haben und umgarnte nun mit überschwänglicher Freude die lange sehnsuchtsvoll gesuchten Aliens.

Anfangs wurde dieses euphorische Verhalten der Menschen freudig und nur leicht verblüfft angenommen. Doch im Laufe der Jahre mehrte sich Misstrauen unter den Quats. Wie kam es, dass eine derart in sich verschlossene Spezies von einem Tag auf den anderen eine ekstatische Willkommenskultur entwickelte? Woher kam die plötzliche, übergroße Bereitwilligkeit, den blau-grünen Planeten mit dem Besuch zu teilen?

Um sich über derartige Fragen Klarheit zu verschaffen, begann man die Kommunikationsabläufe zwischen den Menschen untereinander genauer zu studieren. Es erwies sich als unerwartet kompliziert, die Sprachen einer so komplex geneigten Spezies zu analysieren und erst nach Jahrzehnten konnte man grundlegende syntaktische und semantische Spezifika ihrer Kommunikationsweisen feststellen. Besonders langwierig gestaltete sich die Forschung deshalb, weil sich keine Bezugnahmen auf die besuchende Spezies der Quats in den Menschensprachen finden ließen. Bloß von wissenschaftlichem Entdeckergenie und ähnlich narzisstischen Neigungen war in der Nähe der die Quats betreffenden semantischen Felder zu hören und zu lesen – nichts aber über die Besuchenden selbst.

Dies war derartig unerklärlich, dass man lange an den Übersetzungs- techniken zweifelte und wieder und wieder nachfeilte, bevor man zum unumstößlichen Schluss gelangte, dass die Menschen tatsächlich nie von ihren Besucher_Innen sprachen oder schrieben. Warum war dem so? Gab es hier ein Tabu? War es ethologische Pflicht dieser eigenartigen Spezies über Gastfreundschaft zu schweigen? Oder war diese den Menschen so selbstverständlich, dass Austausch darüber gar keinen Sinn machte?

Man fand keine befriedigende Antwort, wieso man keine Spur seiner selbst in den Sprachen der Gastgebenden fand. Dies nährte das bereits angefachte Misstrauen und es häuften sich die Stimmen unter den Quats, die eine Falle befürchteten. Man fragte sich, ob man die Menschen nicht falsch eingestuft hatte und diese nicht doch hinterhältig und böse statt verkappt und selbstbezogen waren. Vielleicht – so eine zunehmend lautere Befürchtung – saß man einer großen Verschwörung auf, die so schwerwiegend war, dass man sich unter den Menschen entschieden hatte, erst gar nicht von den Quats zu reden, um sich auf keinen Fall zu verraten.

Solche Unsicherheiten zeitigten ihre Wirkung – wo man früher mit großer Euphorie über den geteilten Planeten jagte, huschte man nun immer stockender über die Länder und Ozeane. Hierauf reagierten die Menschen empfindlich, sprachen von mystischen Energiekrisen, den begrenzten Ressourcen ihres Planeten und ähnlichen Melancholien. Unter den Quats wuchsen dadurch die Skepsis und die Überzeugung weiter, dass man den blau-grünen Planeten lieber verlassen sollte, solange man noch konnte. Als die Menschen dann immer größere Flüsse stauten, nur um die Quats zu unterhalten; überall Windräder aufstellten, nur damit sie auch von diesem meteorologischen Phänomen gekitzelt werden konnten und man unter den Menschen sogar von Fusion zu sprechen begann, brannte den Gästen das Vertrauen gänzlich durch und man entschied sich, den blau-grünen Planeten zu verlassen und die Menschen aufzugeben.

Erstaunlicherweise brach die Kultur dieser erstaunlichen Menschenspezies gleich nach der Abreise ihres Besuchs gänzlich zusammen und nur wenige überlebten noch einige Jahrzehnte in – wie sie es nannten – „steinzeitlichen“ Lebensbedingungen. Nichts ging mehr für die Menschen, als die Quats die Flucht ergriffen. Ihre Versorgung brach zusammen, ihre Kommunikation wurde unmöglich, ihre primitiven Verkehrsmittel wollten nicht mehr – gänzlich gelähmt schienen sie und unfähig, irgendwie weiter zu machen.

Was immer die Menschen auch mit den Quats vorhatten – für sie war es anscheinend ein großer, fast unverdaulicher Schock, als diese unver- mittelt wegzogen. Vielleicht – so die Meinung einiger Enzyklopädisten heute – waren die Menschen einfach nur ungeheuer einsam. Und als sie endlich – und entgegen all ihrer Prädispositionen – mit dem sehnsuchts- voll gesuchten Anderen zusammenkamen, konnten sie sich eine Existenz ohne dieses gar nicht mehr vorstellen.