Die Währung des Wortes

Die untenstehenden Texte sind Auszüge aus einer umfangreicheren Arbeit („Der Hirte des Rheins und die Währung des Wortes“) über die Re- zeption des Œuvres Anselm Kiefers im deutschsprachigen Raum, hauptsächlich jedoch in Deutschland. Dessen Arbeiten, die ab der Biennale 1980 einem breiteren, internationalen Publikum bekannt wurden, erregten bei den Deutschen großes Unbehagen. Eine „Überdosis an Teut- schem“ attestierte beispielsweise Werner Spies Anselm Kiefer bei jener Ausstellung 1980, weil dieser sich scheinbar affirmativ auf den National- sozialismus bezog. Als „Spiel mit dem Irrationalismus und der Brutalität“ bezeichnete Petra Kipphof gar Kiefers Holzschnitte, weil ihr die Abgren- zung offenbar nicht korrekt genug vorgetragen war. Man fühlte sich in Deutschland von Kiefers Werken ab dem Moment bedroht, wo es einer Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde. Es brach Panik aus. War es möglich, dass nach all den Theateraufführungen von Anne Frank nach dem Krieg, bei denen die Deutschen zeigen konnten, wie gut sie sich in Menschen hineinfühlen können, die sie wenige Jahre zuvor noch am Fließband ermordet hatten, doch noch einer übriggeblieben war, der einfach nicht die Perspektive vom Täter zum Opfer gewechselt hat? Jene panische Verstocktheit erwischter Rotzlöffel mit schlechtem Gewissen blieb eine Weile bestehen und geriet erst in Vergessenheit, als Kiefers Werk größe- re Aufmerksamkeit von Kunstsammlern aus den USA und Israel erhielt.

Heute (2008), wo Werner Spies bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Anselm Kiefer die Laudatio hält, ist man in Deutschland mit Kiefer versöhnt. Doch die Friedhofsruhe, die jetzt andächtig um Kiefers Werk verbreitet wird, ist aus dem gleichen Stoff, wie die hysterischen Abgrenzungsversuche, weil beides dem Werk äußerlich bleibt und aus deutschen Projektionen besteht. Aus dem Zerstörer der Wiedergutmachungsanstrengungen der Nazi-Enkel ist deren Galionsfigur – zumindest im Kunstbetrieb – gemacht worden. So ist es nicht ver- wunderlich, wenn im Rahmen von postmodernem Herumgestochere im Gegenstand, wie sie die Kunstwissenschaft betreibt, man heute im Zusammenhang mit Kiefers Œuvre den Eindruck gewinnt, es handele sich dabei um eine Einladung zu einem Rundgang durch die Kulissen der Bay- reuther Festspiele, um nach Art der Achtsamkeitsübung heutiger Bil- dungsphilister, sich an deutschen Sagen zu berauschen, um der schnelllebigen Zeit etwas mehr Farbe – Sinn – zu verleihen. Was damals Kiefer vorgeworfen wurde, wird in seiner Rezeption heute Realität. Besonders angstbefreit kommt diese unbewusste Affirmation der Vernichtung, getarnt als Sinnsuche, in Gestalt der Kunst- und Designwissenschaftlerin Cordula Meier daher, die mit ihrer Arbeit „Anselm Kiefer – Die Rückkehr des Mythos in die Kunst“ Beobachtungen mit Wünschen verwechselt.

PARODIE DES ÄSTHETISCHEN SCHEINSTheodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33

Was unter den Labels „Poststrukturalismus“ oder „Postmoderne“ sich versammelt, ist eine Attitüde, eine Philosophie, die nicht inhalt- lich angeeignet werden muß, sondern als Segment des individuellen Lifestyle [sic] getragen werden kann. Der Philosoph als Star, das Publikum als Fan-Gemeinde und die Philosophie als Ware von der Stange: die „Postmoderne“ signalisiert die durchgesetzte Herrschaft kulturindustriellen Marketings, die unmittelbare Herrschaft der Ware selbst in den luftigsten Bereichen des Überbaus. Derart als Symptom genommen, ist die „Postmoderne“ allerdings ein ernstzunehmendes Phänomen.
—CLEMENS NACHTMANN, 1997

Eine Annäherung an die Kiefersche Mythenrezeption kommt nicht umhin, das gesellschaftliche Umfeld, in das solche Bestrebungen gebettet sind, zu berücksichtigen. So muss die von Habermas als Signum postmoderner Grundkonstitution genannte „Neue Unüber- sichtlichkeit“ als Begründung für den Wunsch nach Mythologien als erkenntnisbündelnde Medien vermutet werden. Die allgemein propagierte Suche nach Ganzheitlichkeit ist so gesehen ein Effekt solcher Unübersichtlichkeit in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft. Das in den differenten, hegemonialen Wissensformationen ‚zerstückelte Subjekt’ versucht im vereinheitlichenden mythischen Erzählen selbst wieder ‚Einheit’ – des Wissens und Erkennens – auch im Sinne des Wahrnehmens zu erfahren. Mythen gewinnen dort ihre Kraft, wo andere Wissenssysteme kein einheitliches Deu- tungsmuster mehr bereitzustellen in der Lage sind.
—CORDULA MEIER, 2013

Das Ozeanische Gefühl wird bei Meier zu einer Forderung. Die Formali- sierung des Œuvres Anselm Kiefers kommt in deren ’kunstwissenschaft- licher Betrachtung’ zu voller Blüte. Auch darin ließe sich das ein oder andere über Kiefers Bildsprache und deren kunsthistorische Einordnung lernen, inhaltlich stellt sich Erkenntnis in diesem Zusammenhang jedoch lediglich ex negativo als Entlarvung ihrer apologetischen Borniertheit dar. Der Schauer, den ein deutscher Ödipus wie Werner Spies noch als wohliges Kribbeln im Angesicht dessen, was ihm der halluzinierte amerikanische Vater verboten hat, den ’Kunstgenuss’ von Kiefers Bildern nämlich, zu spüren vermag und darin en passant sein Missverständnis dessen ausplaudert, was er für Benjamins Begriff der Aura hält, wird bei Meier zu einer Art Räucherstäbchenduft unter anderen Sorten re- lativiert, welcher der Tagesform und Stimmung gemäß dem deutschen Kulturkonsumenten nach einem harten Tag eine wohl dosierte Ich-Auslöschung im Mythos ermöglicht. Die von ihr dargelegten Voraussetzun- gen, der philosophische Abriss, auf den sie die Untersuchung von Kiefers Werk zu stützten glaubt, dokumentiert ihre Unkenntnis dessen, was sie dort zitiert. Die Kreativität, die sie dabei walten lässt, ist ganz und gar erstaunlich.

Zentrale Zusammenhänge der zitierten Werke bleiben außen vor, stattdessen überträgt sie Gedanken der Sprachtheorie der Semiologie de Saussures formalisierend auf die anderen Theoreme. Adorno, Barthes, Friedländer, Derrida, Grasskamp u.v.m. sind hinterher weder zu unterscheiden, noch wiederzuerkennen. Die in doppeltem Sinn unbeirrbare positivistischen Position, die sie dabei einnimmt, scheint sich nicht sonderlich mit Nichtidentischem zu bekümmern. Diese Egali- sierungstendenz weist eine nestwarme Verwandtschaft zu dem inhalts leeren ‚ikonographischen Imperativ der Deutschen’, den Spies sich für die deutschen Neoexpressionisten, zu denen Kiefer gehört, zurechtge- legt hat, auf. Doch Meier kommt von der gegenüberliegenden Seite, zeigt aber deutlich, dass sie von dem Œuvre in dem sie herumstochert genauso unerschüttert ist wie andere, aber den Fetisch Kiefer dennoch für ihren Hokuspokus schamanistisch zu schütteln weiß. Bei Meier wird die Shoah und der Nationalsozialismus letztlich zum psychotherapeutisch bestätigten Selbstfindungstrip für solche, die durch die Schnelllebigkeit und Unübersichtlichkeit unserer modernen – bei ihr dezidiert postmo- dernen – Welt, etwas Ruhe vor dem Alltagsstress suchen.

Die Erfahrung an dem Mythos, den Kiefer anscheinend betreiben soll, wird hier zum Sinnstiftenden Element, wie sich im Eingangszitat des hiesigen Kapitels erkennen lässt. Es wird darin deutlich, von wo aus Meier das, was sie für Denken zu halten scheint, entwickelt: die restlichen Scherben der „[postmodernen] Grundkonstitution“Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33 sollen mit Kiefer zusammenge- kratzt werden und doch noch ihre spirituelle Ganzheitlichkeit durch die Vernichtung der europäischen Juden bekommen, die darin zum Mythos verklärt wird, denn „Mythen gewinnen dort ihre Kraft, wo andere Wis- senssysteme kein einheitliches Deutungsmuster mehr bereitzustellen in der Lage sind.“Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33

Wenn sich eines über Kiefer und dessen Werk wohl recht deutlich sagen lässt: es geht nicht um Sinnstiftung, sondern darum, diese in, wenn auch eigenwilligen Weise, unmöglich zu machen. Mag sein, dass seine Werke viele Ebenen berühren und umfassen, die nicht al- lein die gebetsmühlenartige Zitation des Nationalsozialismus betreffen. Jedoch ist die Zerstörung des Sinns das, was sein Formgesetz bestimmt, darum aber nicht, was Kiefers Werk bedeutet oder bedeutet hat. Wo das Gegenteil behauptet wird, ist man im begriffslosen Niemandsland in sich kreisender Kunstwissenschaften angekommen, die das Werk als russische Puppe denkt, die in sich wieder nur Form birgt. Denn Kiefers Werk kann mit Sicherheit vieles sein, der Pfaffe einer verängstigten Gemeinde ist er so wenig wie sein Werk ein Versuch christlichen Trostspendens in unruhigen Zeiten. Wer Übersicht vermittels des Unüberblickbaren sich einbildet, sollte vielleicht einen zweiten Blick riskieren. Doch Meier hat sich entschieden: gegen das Subjekt und für Sinnstiftungsakte durch kollektive Erzählungen.

Wo Ängste und Entfremdung die individuellen Zugriffe auf solche Stiftungsakte verstellen, greifen erneut kollektive Erzählungen und Symbole von der Sinnhaftigkeit allen Seins. In entgöttlichten Zeiten sin die Künste auf den Plan gerufen, ein Vakuum, einen Sinnverlust zu füllen. [...] In solchen Zeiten kann der Mythos als Kollektiverzählung, als kollektives Wissen von der Bedeutsamkeit aller Phänomene, von Künstlern aufgenommen und verarbeitet werden, um ‚Weltzugänge’ zu stiften.Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33

DAS RE-TRIBALISISERTE KOLLEKTIV

Aufklärung, die „das Lebendige mit dem Unlebendigen ineinssetzt“, schlägt also um in Mythologie. Wenn also, wie sich nach Horkheimer/ Adorno gezeigt hat, das aufklärerische Denken aus mehreren gewichtigen Zusammenhängen – schon Mythos ist Aufklärung; Aufklä- rung schlägt immer in Mythos zurück – auf mythische Denkweisen verweist, würde daraus ein Geschichtsverständnis resultieren, dass in einer ‚vollends rationalen Welt’ der Rückkehr des Mythos sicher sein kann. In der Geschichte würde so mit logischer Konsequenz einem Zeitalter des ‚Logos’ ein von mythischem Denken geprägtes Zeitalter folgen.
—CORDULA MEIER, 2013

Was Meier für das hält, was sich „nach Horkheimer/Adorno gezeigt hat“Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33 erweist sich alleine deshalb als falsch, insofern Adorno die Negative Dia- lektik als Kritik affirmativer Sinnstiftung ausformuliert hat. Das seltsa- me Missverständnis Meiers, dass aus der Dialektik der Aufklärung einen Abriss der Mythos-Aufklärungs-Kontraktionen der Universalgeschichte macht, hebt die Differenz auf, um die sich in jener Darstellung der Geschichte der Aufklärung als Bedingung der Möglichkeit der Reflexion auf sich selbst, bemüht wird. Der Sinn, der von Meier hier an der Kollektiverzählung hochgezogen wird wie ein besonders blühfreudiges Rankengewächs, imitiert die Grimasse der Herrschaft selbst, nämlich der einer Gemeinschaft gegen die Einzelnen. Wo das Christentum in der Passion noch bis zum Äußersten dem Leiden eines Einzelnen eingedenkt und das geopferte Lamm gleichzeitig mit dem verlorenen, das Abraham sucht, auch wenn dies bedeutet die Herde alleine zu lassen, zusammenbringt, und schließlich auch die Erlösung der Welt an den Grenzen des Einzel- nen, seiner Haut, seinem Leib, aufrichtet – Johannes 14:6: ‘Ich bin der Weg und die Wahrheit und keiner kommt zum Vater denn durch mich’ –, hat Meier die Sinnstiftung mit dem Mythos und dem Kollektiv gegen den Einzelnen ausgespielt. Dass sozusagen aus der wie immer schiefen und oberflächlichen Einsicht in die Verlassenheit des Einzelnen, welcher einem unübersichtlichen – weil unvernünftigen – Ganzen – weil objektiv Gesellschaftlichen – mit der Empfehlung der Ich-Auflösung in der retri- balisierten Volksgemeinschaft qua Mythos geantwortet wird, sozusagen Herrschaft noch einmal bestätigt werden soll von dem selbstzugerichte- ten, optimierten und verstümmelten Subjekt bzw. was von ihm übrig ist, enträt nicht einer gewissen Kaltblütigkeit. Adorno würde solcher Rancune gegen die Einzelnen, die kaum noch viel mehr sind als das nervöse Flackern der Teelichter, die in den Kirchen an die Toten erinnern sollen, mit der Stimme einer der Widerstandskämpfer aus Sartres Morts sans sépulture antworten

„oder: wozu soll man eigentlich – in einer Welt leben, in der sie einen schlagen, bis einem die Knochen zerbrechen? Diese Frage ist jeden- falls als eine nach der Möglichkeit überhaupt auch nur einer Affirmation des Lebens gar nicht mehr zu umgehen. Und ich würde denken, daß überhaupt kein Gedanke, der nicht daran sich gemessen hat, der das nicht theoretisch in sich aufnimmt, daß ein solcher Gedanke von vornherein einfach das abschiebt, worüber nachzudenken ist, – und deshalb eigentlich ein Gedanke gar nicht mehr genannt werden kann.“Theodor W. Adorno | Metaphysik. Begriff und Probleme | Suhrkamp |1965 | 173-174, 207, 162-163

Die Kaltblütigkeit gegen die Einzelnen bei Meier, ist gestisch jener anverwandt, die sich als Achse von Ernst Jüngers Sinngebung des Gemet- zels, über Spies’ haarsträubende Eingemeindung des Schreckens als folkloristischen Konsumartikel Made in Germany bis zur vollkommenen Stillstellung des Gedankens bei Meier, durch das Leid der Opfer pflügt. Angst und Leiden werden zu Pop. Dies trägt die Züge von Todesmetaphysik, jener Vorstellung also, dass sich das Dasein als Identität, Einheit erst durch den Tod herstellt. Den mystischen Schauer, den Spies der deut- schen Schlachtkunst, die Inhalt und autochthone Starrsinnigkeit durcheinanderbringt – „Nur ein malerisches Opfer vermag dies.“Werner Spies | Der ikonographische Imperativ der Deutschen | University Press | 2009 | 178 – und als Gütesiegel aufklebt, ist letztlich das Gleiche, was für Meier in Kiefer zu einer „Art heiligen Ernst“Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33 vermittels mythologischer Zitation wird. Wie in der Todesmetaphysik wird daran deutlich, wie eigentlich vollkommen desinteressiert man es sich hier sozusagen inmitten des beispiellosen Schreckens eingerichtet hat und wie Mehrwert daraus sich ziehen lässt, dass innerhalb von nicht einmal einem Vierteljahrhundert sich die Welt gleich zwei Mal in Brand setzen ließ. Jene Vorgehensweise fällt mit der Unfähigkeit oder schlichten Weigerung zusammen, sich außerhalb der perversen Opferidentifikation, die schäbig jegliche Differenz erodieren lassen will und kulturell veranstaltet die Vernichtung als Positivität be- gehrt. Die Hinwendung zu dem Thema wird so über Kiefers Œuvre zu einem absurden Zirkus der Verdrängung, der hohen Eventcharakter hat, jedoch frei von der Möglichkeit genuiner Erfahrung ist. Diese würde nämlich bedeuten, nicht sich selbst in der Sache zu bestätigen, sondern statt zu erschaudern, sich erschüttern zu lassen. Das kulturelle Erlebnis, zu dem man mit Kiefer meint einladen zu können hingegen, ist leer. Das Ne- gative in Kiefers Werk, ist eine Leerstelle, die die Meiers dankbar füllen.

Diejenigen, die mit der Spielmarke Holocaust die deutsche Kultursphäre zu zirkulieren wissen, sind daher nicht mehr zu retten, lediglich zu stoßen – in der Hoffnung, sie mögen zumindest vor sich selbst erschrecken. Die latente Todesmetaphysik als Faszination für den Schrecken, den man an Kiefers Werken sich zum Auratischen zusammenfantasiert, weil man die Bilder für eine Provokation hält und daher sehr persönlich angespro- chen und letztlich narzisstisch befriedigt fühlt, tauscht Erfahrung gegen Erlebnis ein, um das fragmentierte Ich zum Frankensteinmonster post- moderner Identität zusammenzunähen: „Die Todesmetaphysik, so wie sie heute gehandhabt wird, ist, so will es mir scheinen, weit eher ein Trost darüber, ein vergeblicher Trost darüber, daß den Menschen das abhan- den kam, was ihnen vielleicht den Tod zuzeiten erträglich machte: näm- lich die Einheit der Erfahrung.“Theodor W. Adorno | Metaphysik. Begriff und Probleme | Suhrkamp |1965 | 173-174, 207, 162-163 Die ausgelagerte Einheit, die man selbst nicht mehr als Erfahrung zustande bringt, soll sich jedoch nun gerade daran konstituieren, was die Erfahrung historisch restlos zersplittert hat: das Kiefer-Erlebnis gereicht darin an jenen Punkt, wo sie sich als Negatives eigentlich versperrt zu einer Positivität, die dem Ich kanniba- listisch einverleibt werden kann. Die Sache ist in sich so paradox und wi- dersprüchlich, wie sie die Realität deutscher Kulturpolitik auslotet. Wo Auschwitz zum Kraftzentrum der Selbstbestätigung ontologisiert wird, scheint der Traum von der Überschreitung der Körperschranke, von einem Geist zum anderen, der Transplantation eines Kopfes auf einen anderen Körper geglückt, von der nur eine Narbe bleibt, an der sich einstweilen wohlig gekratzt wird, weil sie das Symbol des Triumphes über die Kreatürlichkeit des schmerzempfindenden Leibes ist:

Die These von der Sinnhaftigkeit dessen was ist, die ist, als eine on- tologische These verstanden, mit den Erfahrungen, die man gemacht hat nicht nur in Auschwitz, sondern auch durch die Einführung der Tortur als einer Dauerinstitution und durch die Atombombe – all diese Dinge bilden ja ein Art von Zusammenhang, von höllenhafter Einheit –, diesen neuen Erfahrungen gegenüber wird die Behauptung eines Sinnes dessen was da ist, der affirmative Charakter, der fast ahnungslos der Metaphysik zukam, zum Hohn; und wird gegenüber den Opfern zum schlechterdings Unmoralischen, indem der, der mit solchem Sinn sich abspeisen läßt, dadurch das Unsägliche und nicht Wiedergutzumachende und nicht Wiederherzustellende doch gewis- sermaßen moderiert mit der Gebärde: nun, es wird doch schon irgendwie, in einer geheimnisvollen Ordnung des Seins, so etwas wie einen Sinn gehabt. Mit anderen Worten also, man könnte sagen, daß angesichts dessen, was wir erfahren haben, – und lassen sie mich sagen: erfahren haben es auch die, an denen es nicht selber unmittelbar verübt worden ist; es kann für keinen Menschen, dem nicht das Organ der Erfahrung überhaupt abgestorben ist, die Welt nach Auschwitz, das heißt: die Welt, in der Auschwitz möglich war, mehr dieselbe sein, als sie es vorher gewesen ist. Und ich glaube, wenn man sich genau beobachtet und analysiert, daß man findet, daß bis in die geheimsten Reaktionen hinein, die man hat, eben das Bewußtsein, in einer Welt zu leben, in der das möglich – wieder möglich und erst möglich – ist, ihre ganz entscheidende Rolle spielt.Theodor W. Adorno | Metaphysik. Begriff und Probleme | Suhrkamp |1965 | 173-174, 207, 162-163

Von weit her hört man Nietzsches Zarthustra rufen, der Mensch sei eine Brücke, die zum Über-Menschen führe; der Mensch sei etwas das überwunden werden soll. Was die Design- und Kunstwissenschaftlerin Meier hier heraushört, ist, dass die Brücke zur Über-Gemeinschaft aus den Knochen der Toten zu bauen wäre und jegliche progressive Emphase, die bei Nietzsche darin besteht, dass, so wie die Menschen waren und sind, nicht das letzte Wort in der Geschichte gewesen sein darf, im Sinn- kitsch zu ersäufen wären. Meier glaubt mit der Dialektik der Aufklärung in offenbarem Unverständnis noch ein jedes Andere, welches im Glauben an ein Jenseits zumindest als Gedanke zugelassen ist, der tödlichen Ewigkeit des Kollektivs als identitäres Sinnstiftungsmoment opfern zu können. Hätte sie den Titel des Buchs ein zweites Mal gelesen, wäre ihr folgendes Fazit vielleicht erspart geblieben: „‚Auf dem Weg zur neuzeit- lichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht’. Der Mythos wird also als Möglichkeit beschrieben, die als ‚vieldeutige Bedeutung’ und ‚Sinn’ für das Individuum erfahrbar ist.“Theodor W. Adorno | Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit | Suhrkamp | 1970 | 33

Dazu kann man nur kommen, wenn man beharrliche im Text lediglich das eigene Spiegelbild zu sehen vermag. Wo von „dialektischer Komplexität von Mythos und Logos am Beispiel des Zeitalters der Aufklärung“ (ebd.) schwadroniert wird, kann kein Verständnis herrschen, weder über den Begriff der Dialektik, dem sie offenbar so wenig Aussagekraft zutraut, dass sie ihn zur ‚dialektischen Komplexität von’ erklärt, als würde es sich dort um eine kausal bestimmte Wechselwirkung von warm zu kalt handeln; noch darüber, wie, und das Folgende ergibt sich gewissermaßen aus dem Vorherigen, Aufklärung und Mythos in jenem Buch zueinander stehen. Die Dialektik der Aufklärung ist indes kein historisches Beispiel unter anderen, son- dern die Beschreibung eines Verhältnisses, das die Scheidung von Zivili- sation und Barbarei angreift. Das versteht Meier nicht. Denn sie möchte eine „mythische Qualität“Cordula Meier | Anselm Kiefer. Die Rückkehr des Mythos in der Kunst. Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung | Essen: Die blaue Eule | 2013 | 22, 24, 36, 93, 37 des Mythos an sich bestätigt wissen, die sie, dass muss man neidlos anerkennen, in äußerster Freiheit zum Objekt, nämlich frei von diesem selbst, sehr kreativ aus der Dialektik der Aufklärung herauszulesen meint .