Max Salzborn
2017
Die politische Theoretikerin Chantal Mouffe vertritt ein Konzept des Politischen, das sie nicht in einem allumfassenden Konsens, sondern im Konflikt und im Kampf um Hegemonie zwischen ebenbürtigen Gegnern auf der Bühne der Politik verwirklicht sieht und als „Agonistik“ bezeichnet. In diesem Kampf um Hegemonie spricht sie der Kunst das Potenzial zu, kritisch in die Gesellschaft intervenieren zu können und zum Aufbau oder zur Durchsetzung gegen-hegemonialer Strategien und radikal-demokratischer Positionen beizutragen. Kunst besitzt mithin eine klar politische Dimension: sie kann einerseits eine hegemonial gewordene symbolische Ordnung der Gesellschaft angreifen, kann aber andererseits ebenso zu ihrer Erhaltung und Reproduktion beitragen. Um nach den Maßstäben Mouffes kritisch zu sein, hat Kunst allerdings einen Preis zu zahlen: sich in den Dienst von Politik zu stellen.
Mouffe geht von der Prämisse aus, dass Kunst, die in kritischer Absicht politisch mitmischen möchte, sich in exogene Felder begeben muss. In diesem Zusammenhang spielt insbesondere Kunst im öffentlichen Raum, außerhalb des „White Cube“, eine bedeutende Rolle. Gerade an jenem Ort findet materiell eine Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Gesellschaf t st att , gerade dort kann Kunst eine sozial relevante Rolle erfüllen. Unter dem Stichwort „artivism“ (aus dem Englischen „art“ und „activism“ zusammengeset zt e Bezeichnung) lassen sich jene künst lerischen Strategien zusammenfassen, die sich etwa die Besetzung öffentlicher Räume, hier wortwörtlich gemeint, zu eigen gemacht haben, um auf diesem Wege als Störfaktor aufzutreten und beispielsweise auf den repressiven Charakter des korporativen Kapitalismus aufmerksam zu machen. Um Missverständnissen vorzubeugen sei darauf hinzuweisen, dass die Behauptung, kritische Kunst könne zu politischer Veränderung beitragen, jedenfalls nicht bedeutet, dass sie das Projekt sozialer Veränderung, mit dem Ziel der Etablierung einer den neoliberalen Kapitalismus ersetzenden, neuen Hegemonie, alleine tragen könnte. Ganz im Gegenteil, Mouffe verteidigt vehement die Wicht igkei t von e t ablier t en politischen Institutionen, wie Parteien oder Gewerkschaften. Kritische Kunst geht hier Hand in Hand mit jenen Institutionen und wird zu einem Element von vielen, die im Zusammenspiel, eine Umwälzung der gegebenen Verhältnisse erreichen könnten.Chantal Mouffe | Artistic Activism and Agonistic Spaces | Art & Research Journal, Vol. 1, Nr. 2 | 2007
Zusammengefasst heißt das: die Vision von Chantal Mouffe ist eine, in der kritische Kunst sich die Ziele spezifischer politischer Forderungen zu eigen macht, sich ihnen also in den Dienst stellt und sie so unterstreicht und unterstützt – in der Kunst mithin als Zusatzglied verstanden wird, was letzten Endes in der Erreichung eines höheren Zweckes aufgeht. In diesem Sinne erscheint Mouffes Verständnis von kritischer Kunst nun dem zu entsprechen, was Theodor W. Adorno einst als entkunstete Kunst bezeichnete. Für Adorno hat Kunst „inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie als das Andere, vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaf t Ausgenommene, dem Realitätsprinzip Unterworfene“.Theodor W. Adorno | Ästhetische Theorie | 1996 Von Entkunstung spricht er sodann, wenn Kunst an dem Punkt angelangt ist, an dem sie ihre Autonomie, gemeint als ästhetische Reinheit und Abspaltung von anderen Sphären der Gesellschaft, aufgegeben hat. Obzwar Adorno den Begriff im Hinblick auf die Vereinnahmung der Kunst durch die Kulturindustrie entwickelt hat, so scheint doch dieses Konzept ebenso eine Vereinnahmung der Kunst durch die Politik zu beleuchten. An dem Punkt nämlich, an dem sich Kunst als reine Kunst selbst verneint und sich stattdessen etwa in die Arena der Tagespolitik begibt, um sich mit derselben zu vermischen, setzt die Entkunstung an. Je entkunsteter die Kunst, desto kritischer – so scheint die Formel nach Chantal Mouffe zu lauten.
Ich frage nun: lohnt sich die Entkunstung der Kunst zu politischen Zwecken oder ist der zu zahlende Preis zu hoch? Um es anders zu formulieren: Worauf verzichtet Kunst in entkunsteter Gestalt? Ich denke: Durch Entkunstung verzichtet die Kunst auf ihr Potenzial, nichts zu sagen und doch zu uns zu sprechen, geheime Türen zu öffnen. Dafür gewinnt sie, zumindest im Idealfall, an real-politischem Veränderungspotenzial. Aber können wir es uns als Gesellschaft leisten, auf die Utopie zu verzichten? Beziehungsweise übt nicht die Utopie selbst zwangsläufig schon immer Kritik an bestehenden Verhältnissen aus? Ich denke weiter: wollen wir hier ein Urteil fällen, kommt es letzten Endes auf die Wertschätzung der Kunst an sich an. Es gibt einerseits zahlreiche Stimmen, welche der hier besprochenen Form der Entkunstung applaudieren, für die (vermeintlich) nicht-kritische Kunst gar ein gesellschaftliches Legitimationsproblem hat á la „Wozu Kunst?“. Und daneben gibt es viele andere, für welche das In-den-Dienst-stellen von Kunst, ihre Entkunstung zu politischen Zwecken, praktisch ein Sakrileg darstellt. Ein Scheideweg, zwei Möglichkeiten und viele Fragezeichen.