Zur Ästhetik des Normalen in der Mode

Die Psychoanalyse des französischen Psychiaters und Analytikers Jacques Lacan beruht auf drei Grundbegriffen: dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären. Diese drei Register verflechten sich zur Struktur des Psychischen und konstituieren das Subjekt. Dem Imaginären gehören das eigene Selbst- und Fremdbild, aber auch Abstraktionen und Täuschungen an. Das Register des Symbolischen ist die Ordnung der Sprache und Diskurse und es vermittelt zwischen dem Imaginären und dem Realen. Das Reale kann nicht dargestellt werden, es sucht das Subjekt heim als Unfassbares, Unsagbares und ist dennoch vollends verloren.

Ähnlich rätselhaft wie der Begriff des Realen bei Lacan ist in der Mode der Begriff des Normalen, der gerade wieder hoch im Kurs steht. Der Ausdruck „Normcore“ zirkuliert in der Modepresse seit einigen Saisonen als Bezeichnung für einen unauffälligen, unscheinbaren Kleidungsstil, einer Mischung aus 90er- Jahre-Sportswear und un- prät ent iösen, also normalen Unisex-Freizeitklamotten. Zunächst breitete sich der Stil in den Clubs, Snapchat- und Inst agram-Accounts von Berlin und New York aus und wurde dann von Labels wie Vetements, Gocha Rubchinskiy, Hood by Air und Eckhaus Latta auf den Laufsteg gebracht. Der Neologismus „Normcore“ setzt sich aus „normal“ und „hardcore“ zusammen – es geht also um eine potenzierte Version von „normal“. Aber was heißt eigentlich normal und wovon unterscheidet sich normale Mode? Genauso wie sich das Reale bei Lacan nur ex negativo bestimmen lässt – also als das, was es nicht ist – kann man sich auch der Vorstellung des Normalen in der Mode so nähern. Normale Mode ist nicht glamourös, nicht künstlich, nicht kompliziert, nicht zu auffällig, nicht zu trendig. Diese Mode soll von der normalen Frau getragen werden, ein Phantasma, das mit seinen schematisch skizzierten Lebensumständen (sie führt ein erfülltes, aktives Leben) und Charaktereigenschaften (sie ist stark, unabhängig und weiß, was sie will) die Mode regelmäßig heimsucht und Modedesigner plagt (was will die normale Frau anziehen?).

Was heute „Normcore“ heißt, ist eine Neuauflage dessen, was in den neunziger Jahren als „Anti-Fashion“ bezeichnet wurde. Labels wie Helmut Lang, Bernadette Corporation, Maison Martin Margiela, Bless und Walter van Beirendonck nahmen unter dem Vorzeichen der „Anti-Mode“ eine radikale Dekonstruktion der Mode, ihrer Präsentationsformen und ästhetischen Parameter vor. Nach den exzessiven achtziger Jahren, in denen sich Designer wie Thierry Mugler, Jean-Paul Gaultier, Yves Saint Laurent und Gianni Versace gegenseitig mit barocken Modevisionen übertrumpften, räumten die Anti-Fashion-Apologeten in den späten achtziger und neunziger Jahren damit auf und machten sich daran, die Mode auseinanderzunehmen, auf ihre Essenz zu reduzieren und neu zu denken. Einer ähnlichen Dialektik verdanken wir heute die erneute Rückkehr des „Normalen“ in der Mode. Gehypte Normcore- Marken wie Vetements und Gocha Rubchinskyi kehren dem Manierismus der letzten Dekade, wie er vor allem von Designern wie Nicolas Ghesquière (vormals Kreativdirektor bei Balenciaga, seit 2013 bei Louis Vuitton), Riccardo Tisci (Givenchy) und Olivier Rousteing (Balmain) propagiert wurde, den Rücken zu und spucken der Modewelt vertraute, jedoch subtil modifizierte Alltagskleidung vor die Füße. Sie zeigen Trenchcoats, Trainingsanzüge, Jeanshosen, Bomberjacken und Blümchenkleider, die ganz und gar nicht nach glamouröser High Fashion, sondern eher nach normaler Second Hand-Mode aussehen.

Bei Vetements etwa schert man sich nicht um die Polarität von klischeehaf ten Genderrollen und entwirf t Mode, die sich an den körperfernen, gendertranszendierenden Silhouetten von Merchandising- Klamotten und Sportswear orientiert. Hinter Vetements steht ein 5- bis 15-köpfiges Design-Kollektiv, die erste Kollektion wurde im Frühjahr 2014 im Pariser Schwulenclub Le Dépot vorgestellt. Zunächst kannte man Vetements nur in engsten Pariser Modekreisen. Spätestens seit Demna Gvasalia, gewissermaßen das Oberhaupt des Kollektivs, im Oktober 2015 die Nachfolge von Alexander Wang als Chefdesigner des altehrwürdigen Modehauses Balenciaga antrat, wurde Vetements jedoch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Mode von Vetements steht für Baumwolle statt Seide, Kapuze st att Ausschnitt , Stoff statt Haut, Phlegma st att Glamour. Bei der let zt en Modenschau von Vetements, am 24. Januar 2017 im Centre Pompidou in Paris veranstaltet, entfaltete sich auf dem Laufsteg ein Kaleidoskop verschiedener Mode- Klischees: Eine Pelz tragende Dame mit grauen Haaren und Sonnenbrillen eröffnete das Defilee, gefolgt von einem breitschultrigen Koloss in schwarzer Lederjacke, einer zerstreuten Großstadtbewohnerin in Jeans und Trenchcoat, einem blassen Anzugträger im wetterfesten Anorak, einem Punk mit knallroter Stachelfrisur und einer ganzen Reihe von überspitzt gezeichneten Figuren aus dem alltäglichen, urbanen Bekleidungsrepertoire.

Mit Lacan und den eingangs erwähnten drei Rastern des Psychischen gesprochen liest sich diese neueste Kollektion von Vetements mit ihrem programmatischen Titel „Stereotypes“ als ein Kommentar zu den Komponenten des Imaginären in der Mode, zu ihren Projektionen und mythischen Selbst- und Körperbildern, die bei Vetements in destillierten Form verhandelt und wieder in Zirkulation gebracht werden – als eine parodistische Sublimation der Ästhetik des Normalen.