Stimme und Verfremdung am Theater

Susanne Kennedys Inszenierung von Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt

But is it not the truth of the
voice to be
hallucinated?Roland Barthes | Image Music Text | Fontana Press | 1977

Ob in den Geisteswissenschaften in der nächsten Zeit tatsächlich ein acoustic turnGolo Föllmer | Petra Maria Meyer | Acoustic turn | 2009 stattfinden wird, ist umstritten, dass die akustische Wahrnehmung im Alltag eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, ist allerdings nicht zu leugnen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das aktuelle Phänomen, dass Menschen sich im Straßenverkehr so sehr auf ihren Hörsinn verlassen, dass moderne, leise Elektroautos tatsächlich ein Risiko darstellen, da sie schlicht und ergreifend nicht gehört werden.TAZ | Unfallgefahr durch fehlende Geräusche. Elektroautos sind zu leise | 2013 Mit genau jenem Umst and, dass der Mensch sich buchst äblich blind auf sein Gehört verlässt, wird mitunter auch in den darstellenden Künsten gespielt, etwa in Susanne Kennedys Inszenierung von Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolsadt an den Münchner Kammerspielen.Marieluise Fleißer | Fegefeuer in Ingolstadt | Münchner Kammerspiele | Spielzeit 2012/13, Premiere am 8. Februar 2013 | Regie: Susanne Kennedy | Die Aussagen über diese Inszenierung basieren auf der TV-Aufzeichnung der Erstausstrahlung auf 3sat am 10. Mai 2014. Dass Kennedys Inszenierung innerhalb der Theaterbranche von gewisser Relevanz ist, beweist die Einladung zum Berliner Theatertreffen 2014. | Vgl. Berliner Theatertreffen 2014 | Die Auswahl | 2014Hier sprechen die SchauspielerInnen den Text nicht live auf der Bühne in Anwesenheit des Publikums, sondern die aufgezeichneten Stimmen werden vom Band eingespielt, und die Schauspieler bewegen dazu synchron die Lippen, was eine Differenz zwischen Körper und Stimme erzeugt. Dies entspricht der gängigen Definition von Verfremdung im Kontext des Theaters: „Prozess des Fremdwerdens oder des Fremdmachens, im engeren Sinne durch künstlerische Verfahrensweisen, die [sic]gewohnte Darstellungs- und Bedeutungszusammenhänge auflösen, neue Wahrnehmungen und Erkenntnismöglichkeiten eröffnen.“Patrick Primavesi | Verfremdung | Metzler Lexikon Theatertheorie | Metzler | 2005

Zum Inhalt des Stücks: Die Schülerin Olga erwartet ein Kind von Peps, der sie jedoch ignoriert und sich lediglich für Hermine interessiert. Der Außenseiter Roelle wendet sich ihr zu, worüber Olga zunächst froh ist – das Blatt wendet sich jedoch, als Roelle sie mit seinem Wissen darüber, dass sie eine Engelmacherin besucht hat, versucht zu erpressen und mit Gewalt Zärtlichkeit erzwingen will. Olga gesteht ihrem Vater ihre Schwangerschaft, und als dieser ihr mit Unverständnis begegnet, beschließt sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Als sie sich ertränken will, wird sie jedoch von Roelle gerettet. Er gibt sich als der Vater von Olgas Kind aus und erreicht damit die Ächtung von allen beiden.

GEORGES DIDI-HUBERMAN

In seinem Kapitel zur Verfremdung aus Wenn die Bilder Position beziehenGeorges Didi-Huberman | Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte 1 | Wilhelm Fink Verlag | 2011 verweist Georges Didi-Huberman zunächst nach dem deut schen Theat erwissenschaf t ler Joachim Fiebach auf das hohe Dekonstruktionspotential, das von der Verfremdung ausgeht.Georges Didi-Huberman | Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte 1 | Wilhelm Fink Verlag | 2011 Die Verfremdung zeichnet sich durch eine Demontage der konventionellen Sehgewohnheiten aus, diese tritt aber stets in Dialektik mit einer Mont age in Erscheinung: Das visuelle und narrative Material wird als eine „Mont age von Zit aten“Georges Didi-Huberman | Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte 1 | Wilhelm Fink Verlag | 2011 behandelt , wodurch ein permanenter Verweis auf bereits Bestehendes gegeben ist.
Der Modus des Zeigens hat bei der Verfremdung also eine doppelte Funktion: Einerseits wird gezeigt, um zu demonstrieren, andererseits wird gezeigt, um zu demontieren. Es findet also ein Aufzeigen (neuer, unentdeckter Potentiale) durch Auflösen (von festgefahrenen Konventionen) statt, sodass durch diesen Prozess der Befremdung Erkenntnis überhaupt erst möglich wird. Letztendlich geht es also darum, ästhetische Mittel für eine Krise der Illusion bzw. der Darstellung bereitzustellen – und dies mit dem Zweck, gewohnte Wahrnehmungsprozesse zu irritieren.Dies beschreibt auch Patrick Primavesi in Bezug auf den Theaterbegriff bei Heiner Müller. Vgl. Patrick Primavesi | Theater des Kommentars | Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung | Hg. Hans-Thies Lehmann/Patrick Primavesi | Verlag J.B. Metzler | 2003

Um ein illusionistisches ergo ganzheitliches Theater zu vermeiden, schlägt Didi-Huberman in Anschluss an Bertolt Brecht eine Trennung der Elemente im Sinne der bereits erwähnten Demontage vor. Dadurch soll die Funktion des Theaters weg von der Erzeugung einer Illusion hin zu dem Gewinnen einer Erkenntnis verlagert werden: „Das allgemein Anzutreffende sollte eigentümlich wirken, und vieles, was natürlich schien, sollte als künstlich erkannt werden.“Didi-Huberman | 2011 Um diesen Effekt zu erzeugen ist zusätzlich ein Vermeiden von Einfühlung notwendig, solange dies bedeutet, zum Betrachteten die nötige Distanz zu gewinnen, um es als Betrachtetes erkennen zu können. Durch eben jene Distanz wird uns der Zugang zu einer Andersheit verschafft, um schließlich die „Imagination anderer möglicher Zusammenhänge neu zu komponieren“.Didi-Huberman | 2011

STIMME AM THEATER

Aufgrund der physischen Kopräsenz von Zuschauer und Schauspieler am Theater ist das Einsetzen des Körpers als kommunikatives Medium ein zentrales Element des theatralen Akts. Die Stimme dient also nicht nur der Sprachvermittlung, sondern auch als Zeichen des anwesenden Körpers. Die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch beschreibt dies wie folgt : „Als Urszene des Theaters kann gelten, dass sich ein Körper exponiert, aus der Gruppe, dem Chor herauslöst und seine Stimme erhebt: Wer spricht, wird sichtbar. Von daher ist die Stimme ein konstitutives Element des Theaters seit seinen antiken Anfängen; die Bearbeitung, Erprobung und Formierung stimmlicher Möglichkeiten durchzieht die gesamte Theatergeschichte.“Doris Kolesch | Natürlich künstlich. Über die Stimme im Medienzeitalter | Kunst-Stimmen | Hg. Doris Kolesch | Theater der Zeit | 2004
Die Tatsache, dass eine Stimme nicht einfach da ist, sondern sich aus einem Zusammenspiel quasi-natürlicher Gegebenheiten und kultureller Techniken bzw. Technologien ergibt, wird in audiovisuellen Medien der letzten Zeit im Allgemeinen und in Kennedys Inszenierung im Speziellen thematisiert und exponiert.Kolesch | 2004

Da die Stimme eines Menschen auch immer untrennbar mit seiner Ident it ät verbunden ist, geht es hierbei also auch immer um Verhandlungen des Subjekts an sich und im Kontext seiner Gesellschaft, womit sich wieder der Kreis zur Funktion des Theaters und der Verfremdung schließt: die gesellschaftliche Situation des status quo reflektieren und die conditio humana hinterfragen und womöglich Antworten auf existentielle Fragen diesbezüglich ermöglichen. Die Tatsache, dass Kennedy die Schauspieler den Text nicht live sprechen lässt, sondern dieser aus der „Konserve“ kommt, und somit an entkörperlichte „Stimmen von Toten und von Geistern“Kolesch | 2004 erinnert, legt ein bestimmtes Menschenbild nahe, das im Folgenden näher umschrieben werden soll.

GENERIERTES MENSCHENBILD

„Ihr müsst euren Vater nicht immer außen stehenlassen. Ich möchte wissen, warum wir einander nichts zu sagen haben.“ Marieluise Fleißer | Fegefeuer in Ingolstadt | Ingolstädter Stücke | Hg. Marieluise Fleißer | Suhrkamp | 1972 In diesem Satz, den in Fleißers Stück Berotter, der Vater von Olga, Clementine und Christian, spricht, zeigt sich bereits sehr deutlich, inwiefern die Sprachlichkeit auf selbstreferentielle Weise bereits im Stücktext vorgegeben ist, woran Kennedy mit ihrer Inszenierung anschließt. Christoph Kuhn beobachtet v.a. bei den jugendlichen Figuren das Phänomen, dass sie diese von den Erwachsenen kopierte Sprache selber nicht verstehen: „Die Fleißerschen Personen sind der Sprache, die sie reden, in dem Maß entfremdet, als sie auch der Gesellschaft, in der sie leben, entfremdet sind – und so existieren sie ohne Bewusstsein, werden gestoßen, missbraucht, aufeinandergehetzt, von (in ihren Augen) dunklen Mächten.“Christoph Kuhn | Bosheit und religiöser Wahn im geschlossenen Kreis, Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer | Hg. Günther Rühle | Suhrkamp | 1973

Die Sprache, ihr Hauptkommunikations- mittel, ist ihnen also fremd und entsprechend unsicher bewegen sie sich in und mit ihr. Fleißer selbst hat sie als „Kunstsprache mit bayerischer Kuhn | 1973 Satzstellung“ beschrieben. Von daher verwundert es nicht, wenn Sprache als Risiko „eines grundsätzlichen Miss- verst ändnisses“Genia Schulz | Fußwaschung und Weihwedel. Fleißers sprachlicher Körper, Reflexive Naivität. Zum Werk Marieluise Fleißers | Erich Schmidt Verlag | 2000 empfunden wird. Diese Entfremdung gegenüber der eigenen Sprache thematisiert rund 30 Jahre später auch der irische Schriftsteller Samuel Beckett in seinem Endspiel aus dem Jahr 1956: „Ich gebrauche die Wörter, die du mir beigebracht hast. Wenn sie nichts mehr heißen wollen, bring mir dann andere bei. Oder lass schweigen.“Samuel Beckett | Endspiel | erstmals erschienen 1956 Die eigene Sprache ist auch immer die Sprache der Anderen, die allerdings schon vor einem da waren und einem ein vorgeformtes Gerüst hinterlassen haben, innerhalb dessen man nur einen sehr begrenzten Spielraum für persönliche Ausdrucksmöglichkeiten hat. Letztlich ist man gezwungen, aneinander vorbeizureden und die „verinnerlichte Moral wird – nach außen gestülpt – zur leeren Phrase, auf die man verzichten kann, weil sie einzige Sprechblase ist, die die Kleinstadt-Gesellschaft zusammenhält .“Schulz | 2000

Genau jenes Gedankenbild der leeren Phrasen übersetzt Susanne Kennedy sehr plastisch in die Bühnensituation: Der Ton des gesprochenen Wortes gehört nicht den Akteuren, vielmehr existiert es bereits vor ihnen und völlig ohne sie. Die Figuren müssen dem Text sklavisch hinterherjagen und die durch die Worte vorgegebenen soziale Rollen erfüllen, unabhängig davon, ob sie dazu einen Bezug aufbauen oder nicht. Mit Sigmund Freud gesprochen könnte man dies so verstehen, als sei das Ich nicht Herr im eigenen Haus und die Illusion einer kohärenten, ganzheitlichen Persönlichkeit wird zerstört.

„Die Personen des Stücks stehen unter einem Bann, der sie tun lässt, was sie nicht wollen; aus ihnen heraus, durch sie hindurch, spricht und handelt, was sie in Bann hält. Unter dem Bann stehend, als sich einander entfremdete, sind sie also nicht in der Lage, aus einer Mitte heraus zu agieren bzw. auf den andern, als identische Person, zu reagieren. Beides ist gleichermaßen mehr oder minder mechanisches Reagieren auf Vorbilder, geltende Meinungen, Sprachgesten, etc., die, als scheinbar zur Situation gerade passend, sich aufdrängen.“Herbert Gamper | Kleinmenschliche Raubtierschaft | Zu: ’Fegefeuer in Ingolstadt’“, Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer | Suhrkamp | 1973

Dies etabliert ein Bild von unfreien, eingeschränkten und verrenkten Menschen: Metaphorisch könnte man von Marionetten sprechen. Dieser Umstand wird in Kennedys Inszenierung auf visueller Ebene in eine Körpersprache übersetzt, die aus seltsamen Posen und einer hohen Statik besteht.
Die Entfremdung von der Sprache und somit von sich selbst hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und trägt zu einer Vereinzelung bei, die sich sogar innerhalb der Kernfamilie bemerkbar macht: Genia Schulz beschreibt die Familien in Fleißers Stück als künstliche Einheit, die diese als „Ruine“Schulz | 2000 darstelle, was auch das einleitende Zitat von Berotter deutlich widerspiegelt.