Dario Srbic
2014
Ein Gebäude in einer Stadt, an deren Fassaden man die Vergangenheit ablesen kann. Oft wurden die Gebäude dieser Stadt beschädigt und niedergerissen. Es ist eine historische, doch keine alte Stadt. Über Jahrhunderte entwickelten die BewohnerInnen dieser Stadt die Angewohnheit , am Grundstück eines niedergerissenen Gebäudes ein neues zu errichten. Um die Neubauten in die historische Stadt einzugliedern, wurden Regeln erfunden. Neu gebaute Häuser haben sich seither gestalterisch an den Gebäuden orientiert, an deren Feuermauern sie anschließen. Aus Angst die Kontrolle über die Gestaltung der Stadt zu verlieren, wurden weitere Regeln erfunden. Seither versuchen Häuser, die auf leeren Parzellen gebaut werden alt zu wirken, genauso alt wie deren Nachbargebäude und wiederum mindestens genau so alt wie die benachbarten Gebäude dieser Gebäude.
Ein Gebäude in der Mitte der Stadt ist anders als alle anderen. Seinen Nachbarn ähnelt es nicht, doch ist es mit ihnen verbunden. Die Geschoßdecken der anliegenden Gebäude werden durch das neue Gebäude gezogen. Das Nachbargebäude an der Nordseite hat eine andere Geschoßhöhe als das auf der Südseite. Daher treffen die Geschoßdecken des neuen Gebäudes in seiner Mitte horizontal nicht zusammen. Der Sprung wird durch einen vertikalen Steg verbunden. Dieser Sprung ist nicht sehr hoch, doch ist er merklich. Die Decken verbinden die beiden Gebäude, zwischen denen der Neubau steht. Die Platten dienten als Freiraum, bis eine Haut zwischen ihnen gespannt wurde.
An den Geschoßplatten vormontierte Edelstahlschienen tragen die Fassade des neuen Gebäudes. Diese führt ungewohnte Materialien in das steinerne Stadtbild ein: Glas und Kunststoff. Geschoßhohe Glasscheiben wechseln sich mit geschoßhohen Kunststoffplatten ab, die diffuses Licht in den Innenraum lenken. Diese Kunststoffplatten können Jahre später noch ausgetauscht werden, um die Erscheinung des Gebäudes zu verändern. Die Fassade berücksichtigt eine mögliche Entwicklung dieser Stadt. Richtet sich die historische Bebauung der Straße zu, so wendet sich das neue Gebäude ihr ab. Allein das Erdgeschoß sieht uns an. Es bildet einen Durchgang, der uns in den Innenhof führt.
Die Treppe im Innenhof ist anders als alle anderen der Stadt. Ausgeführt aus rohem Beton, ungeschützt vor dem Wetter und ohne Absturzsicherung erschließt sie die vier Geschoße des Gebäudes. Der Sprung, der die beiden Geschoßdecken miteinander verbindet, wurde bis außerhalb des Gebäudes verlängert und geht in die Erschließung über. Hier bildet der Sprung eine außergewöhnlich hohe Stufe. Es gibt Steckdosen, die in diese Stufe eingelassen sind, denn es gibt nichts, das sie verbietet. Diese viel zu hohe Stufe mit den Steckdosen dient als Sitzbank, an der gearbeitet werden kann. Vor dieser Bank ist eine weite Fläche ausgebildet, sie wirkt als wäre sie ein Teil der Erschließung, dient aber als Balkon. Dieser Balkon ist für die Legislatur unsichtbar, aber in der warmen Jahreszeit belebt.
Galeriegeschoße und Durchbrüche im Inneren des Gebäudes erlaubten es zeitweise von höheren Geschoßen bis in den Keller zu blicken. Betonmauern sind mit fingerbreiten Löchern perforiert, die den BewohnerInnen als Aufhängung für Kleiderhaken oder simpler als ornamentale Wandverkleidung dienen. Die Art und Weise wie die verschiedenen Geschoße des Gebäudes bespielt werden, ist ständig im Wandel. Dies ist den fingerbreiten Löchern geschuldet. Sie dienen als Anker für Wände und Decken, die nachträglich eingebaut werden können. Von außen sind diese Veränderungen nicht zu erkennen. Heute wirkt das Raumprogramm wie eine komplexe Verschachtelung von einzelnen oder zusammenhängenden, kleineren oder größeren Volumen. Noch nie war man sich einig, wie vielen BewohnerInnen der Neubau Schutz bietet, denn manche Räume existieren nur um über die Stadt nachzudenken, in der das Gebäude steht.
Dieses Gebäude steht in der Mitte einer Stadt. Es ist Teil dieser Stadt.
Gäbe es diese Stadt nicht
dann hätten wir kein Gebäude.
Kein Gebäude existiert auf leerem Feld.