Stratigraphische Bilder. Neue Ästhetiken der Montage?

In der 1995 im Rahmen einer Ausstellung im Musée d’art Moderne de Villeneuve d’Ascq entstandenen Videoinstallation „Schnittstelle“ reflektiert Harun Farocki über seine Praxis als Filmemacher, Autor und Videoessayist. Erstmals arbeitet Farocki mit einer Doppelprojektion und einander überlagernden Bildräumen, die sich kommentieren, ergänzen und durch die Verwendung eigener Filmausschnitte eine Dokumentation der eigenen Arbeitsmethodik darstellen. „Schnittstelle“ arbeitet sich dabei an zweierlei Fragen des dokumentarischen wie essayistischen Filmemachens ab. Was bedeutet es, mit vorhandenen Bildern zu arbeiten, anstatt neue Bilder zu schaffen, und inwiefern beeinflussen die bildgebenden Techniken, wie das Videomischpult, der Filmschneidetisch oder andere Plattformen der Bildpräsentation die Arbeit mit und die Rezeption von Bildern? Wie prägen die technischen Interfaces unseren Blick, unsere Betrachtungsweisen, unsere Lesarten?

Anhand der auch als Single-Channel Video erschienenen Arbeit lässt sich jedoch ebenso eine andere Entwicklung im Spannungsfeld von Essayfilm und Videokunst veranschaulichen. „Schnittstelle“ behandelt die Veränderung der Ästhetik der Montage von Linearität zu Gleichzeitigkeit, von einem Nacheinander zu einem Nebeneinander. Was passiert, wenn Bilder andere Bilder kommentieren und diese eben nicht durch die Logik des Filmstreifens eine Folge, eine Reihe bilden, sondern vielmehr in Schichten, Ein- und Ausfaltungen sowie Anhäufungen existieren?
Farocki verweist mittels seiner Praxis der Doppelprojektion nicht nur auf die Auflösung der Trennung filmischer wie skulpturaler Genres, sondern auch auf die Veränderung der Konventionen jenes Prozesses, den wir als Montage verstehen. „Schnittstelle“ stellt sich als ein Übergangsmoment in Farockis Arbeit dar, welcher die Migration des essayistischen Films in den Kunstraum verdeutlicht.Rainer Bellenbaum | Kinomategrafisches Handeln. Von den Filmavantgarden zum Ausstellungsfilm | B_Books | 2013
Diese Bewegung von der Black Box zum Ausstellungsfilm verstetigte sich nicht nur bei Farocki seit den
1990ern und gab dem Bewegtbild eine neue Theatralität, eine Bühne, um „die Virtualität der filmischen Montage theatralisch in Szene zu setzen“Christa Blümlinger | Gedächtnis und Montage. Zur Installation Gegen-Musik | Ehemann, Eshun (Hrsg.): Harun Farocki/Against What? Against Whom?.

Beflügelt durch neue Int er faces der comput erbasiert en Medientechniken und digitalen Designwelten, sind wir in den letzten 20 Jahren mit neuen Verschaltungen von Bildern konfrontiert. Mit der Montage im Nebeneinander verweist Farocki 1995 auf ein Potential in der reflexiven Arbeit mit Bildern, das sich über die letzten zwei Dekaden in einer Vielzahl von Videoarbeiten zwischen Kino und White Cube multipliziert hat. Natürlich kann man die von Farocki gewählte Darstellungsweisen des Nebeneinanders nicht nur auf Video beschränken. Man könnte die Doppelbelichtung im Film ebenso als eine reflexive - auf eine Gleichzeitigkeit bedachte - Montageform verstehen. Auch die Geschichte der Collage und Aby War- burgs Bilderatlas könnte man als historische Vorläufer in Betracht ziehen. Siehe: Yvonne Spielmann | Video – Das reflexive Medium | Suhrkamp | 2005 Er bezeichnet seine Arbeitsweise als ’soft’ montage Robert Hünseler | Nine Minutes in the Yard: A Conversation with Harun Farocki | Senses of Cinema, Issue 22 | 2002. Aus einer Folge von Bildern eröffnet sich ein Bildraum, der von der Logik des Vergleichs durchsetzt ist. In der soft montage entsteht Bildforschung durch das Lesen eines Tableaus – anhand einer „navigierenden“ oder „surfenden“ Rezeption der miteinander konfrontierten Bilderwelten. So sind Farockis Montagen „a-synchrone Schnittstellen von politischem Widerstand, Lifestyleprodukten und Kulturgeschichte“Rainer Bellenbaum | Kinomategrafisches Handeln. Von den Filmavantgarden zum Ausstellungsfilm | B_Books | 2013und bringen sich so gegen lineare Narrative und simplifizierende Konstruktionen von Geschichte in Stellung.

“It’s a matter of ’soft’ montage.
One image doesn’t take the place of the previous one,
but supplements it, re-evaluates it, balances it.”Senses of Cinema | Issue 22 | 2002
—HARUN FAROCKI

Das Montieren von Bildern in einem Nebeneinander durch Doppelprojektionen oder digit alen Videoschnitt findet natürlich zahlreiche Vorläufer in der Filmavantgarde, der Videokunst und im Expanded Cinema.[7] Farocki selbst bezieht sich in einem seiner Texte über sof t mont age“ auf Jean-Luc Godards „Numéro deux“, einen Film, der ihm als Muster für „Schnittstelle“ galt.Harun Farocki | Quereinfluss/Weiche Montage | Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen | Berz Verlag | 2004 Inwiefern erschaffen und setzen heutige Beispiele von sich gegenseitig kommentierenden Bildräumen eine „Augenarbeit“ voraus, wenn ein Bild eben nicht mehr den Platz des vorherigen einnimmt? Sind wir nicht auch gerade durch den Einfluss digitaler Medienrezeption – unserer alltäglichen Arbeit an Desktop Interfaces und taktilen mobile Devices an den Punkt einer Bildästhetik und Rezeption gekommen, in welcher eher die Navigation über Bildflächen dominiert, als eine Montage des Bruchs klassischer essayistischer Provenienz?

Die beiden palästinensischen KünstlerInnen Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme versuchen in ihren inst allativen Arbeiten zwischen konkreter Poetik, Archivrecherche und Essayfilm immer wieder Texte und Bilder miteinander zu verschränken ohne einer didaktischen Haltung zu erliegen. Ihr jüngstes Video „Only The Beloved Keeps Our Secret“Basel Abbas + Ruanne Abou-Rahme | „One The Beloved Ones Keeps our Secrets“ | 2016 verwebt eine Vielzahl vereinzelter Video- und Bildfragmente aus dem palästinensischen Alltag, diverses Archivfootage und Aufnahmen der Landschaf t , die den israelischen Grenzzaun umschließt , zu einem Videoessay, in welchem sich die einzelnen Bildfragmente überlagen, ergänzen und in einer asynchronen, fast schon beliebigen Weise auf- und abtauchen. Dem zum Trotz steht im Zentrum der Arbeit ein Ereignis, um das sich die restlichen Clips ranken.
Die Überwachungskameraaufnahme der Tötung des 14-jährigen palästinensischen Jungen Yusuf Shawamreh durch israelische Soldaten nahe Hebron wurde kurz nach der gerichtlichen Untersuchung des Vorfalls veröffentlicht und fand schnell Verbreitung in den sozialen Medien. Yusuf Shawamreh wollte am Grenzzaun zu Israel die als Delikatesse geltende Pflanze Akab ernten. Begleitet vom aufscheinenden Text eines arabischen Gedichts umfassen die Bild- und Videofenster die Aufnahme vom 14. März 2014. Sie behandeln Akkumulation und Zerstörung, Nähe und Distanz, sowie das Einbrechen der Gewalt in eine friedliche Landschaft, in welcher sich durch das Videoereignis eine politische Dringlichkeit einschreibt, der sich die Bildercollage auf den ersten Blick verwehrt.

“Poor images show the rare,
the obvious, and the unbelievable—that is,
if we can still manage
to decipher it.”Hito Steyerl | In Defense of the poor image | e-Flux Journal #10 | 2009
—HITO STEYERL

Die Opazität der Überwachungsaufnahmen - eines „poor images“ mit seinem „zeugenhaften“ und „rohen“ Charakter – findet eine Entsprechung in der schwer fassbaren Struktur der geschichteten Videofragmente. Für Abbas’ und Abou-Rahmes Arbeiten ließe sich – nicht nur wegen der das Video begleitenden geisterhaften Echo- und Feedback-Soundschleife – der in den 1990er Jahren von Okwui Enwezor auf die Arbeiten des „Black Audio Film Collective“ bezogene Begriff des „Dub Cinema“Black Audio Film Collective | „Handsworth Song“ | 1987 anwenden. Die unterschiedlichen Fenster und Bildräume referieren aufeinander und schaffen Kontaktzonen, die nicht nur die Formen Installation und Film miteinander verschränken, sondern dabei die differenzierenden Wahrnehmungsweisen der von Farocki beschriebenen „Augenarbeit“ erfordern. Die Assemblage der Bilder bewegt sich in Feedbackschleifen und reflektiert das Ereignis der Tötung Yusuf Shawamrehs vor dem Hintergrund dessen symbolischer Bedeutung für den Konflikt im Nahen Osten. Inwiefern kann man im Hinblick auf die verworrene Geschichte des Nahen Osten überhaupt von einem Ereignis mittels Bildern erzählen? Bedarf es dazu einer anderen Bildproduktion, die eine Mehrdimensionalität besitzt? Welcher Formen der Narration von Geschichte müssen wir uns bedienen, um Vergangenes überhaupt verstehen zu können? Abbas’ und Abou-Rahmes Bilderfeedback fragt hier nach und stellt den Versuch dar, Geschichte symbolisch im affektiven Zwischenraum der Bilder wiederkehren zu lassen.

Der britische Künstler Louis Henderson verwendet in seinem Video „All That is Solid“Louis Henderson | „All That is Solid“ | 2014 eine ähnliche Form der Bilderschichtung. Hier bekommt die Ästhetik der Layer jedoch einen fast alltäglichen, allzu bekannten Recherche-Charakter, indem der Desktop als Interface und Grundlage für die Präsentation zahlreicher diskursiv verschränkter Videofiles von Internet-Suchen, Handy-Aufnahmen und Youtube-Videos genutzt wird. Im Widerspruch mit dem emblematischen Design des Apple Desktops und dem dynamischen Entfalten der Vorschauansichten zahlreicher Files thematisiert Henderson die gegenwärtige Ausbeutung von Edelmetallen in West afrika, sowie die Recyclingprozesse zur Wiedergewinnung von Computerbauteilen in Agbogbloshie, einem Stadtteil von Accra. Das „Schrott-Mining“ nach verwertbaren Bauteilen aus „First-World- Devices“ konfrontiert Henderson mit der Geschichte der ehemals als „Goldküste“ bezeichneten englischen Kolonie Ghana und den, von Unternehmen wie Apple propagierten, Internet-Cloud-Ideologien vom digitalen und smart-amateriellen Lifestyle. Henderson weist so nicht nur auf die ganz reale, analoge und materielle Seite neokolonialer Ausbeutungsprozesse und Aneignungsmechanismen hin, sondern stellt diese durch die Form des Desktopvideos in einen Zusammenhang mit unserer eigenen konsumistischen Involviertheit. Der Gegenstand der Recherche und Präsentation – der ästhetische Raum selbst – ist von der widersprüchlichen Akkumulation und Wiedergewinnung von seltenen Erden vereinnahmt.

“This is a film that takes place.
In between a hard place,
a hard drive,
and
an imaginary,
a soft space—the cloud that holds my data.
And in the soft grey matter,
Contained within the head.”Louis Henderson | „All That is Solid“ | 2014
—LOUIS HENDERSON

Das Motiv des Ausgrabens spiegelt sich in der Schichtästhetik der sich überlagernden Video- und Desktopfenster wieder. Der Computerbildschirm wird nicht nur als ein abgefilmtes Tableau für eine Montage im Nebeneinander gedacht, sondern dem Internet wird ein Platz als archäologische Ausgrabungsstätte eingeräumt. In der Tiefe der sichtbaren Bilder-Anhäufungen werden unterschiedliche Zeiten und Orte zusammengebracht, wodurch die Collage der Tiefe des Internetraums entspricht. Henderson überträgt den archäologischen Impuls der Verwendung von Found Footage und Archivmaterialien im klassischen Essayfilm auf das Internet. Hier äußert sich eine Tendenz, die man mit Gilles Deleuzes Auseinandersetzung mit den Filmen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in „Das Zeit-Bild – Kino 2“ vergleichen könnte.
Deleuze sieht bei Straub und Huillet insbesondere in der Aufzeichnung der Landschaft einen Kamerablick, der sich nicht für das Sichtbare, sondern für das Sich- hinter-dem-Bild-Versteckende interessiert . Diese Filmbilder nennt Deleuze st rat igraphische oder tektonische Bilder.Gilles Deleuze | Das Zeit-Bild – Kino 2 | Suhrkamp | 1997 | „Das visuelle Bild wird archäologisch, stra- tigraphisch und tektonisch. Nicht dass wir auf eine Prähistorie zurückverwiesen wären (es gibt eine Archäologie der Gegenwart), sondern auf verlassene Schichten unserer Zeit, unter denen unsere eigenen Phantome verschüttet sind, auf lückenhafte Schichten, die sich in verschiedene Richtungen und Konnexionen aneinanderreihen.“ Durch den Verweis auf eine versteckte Tiefe des zu Sehenden erfordern stratigraphische Bilder laut Deleuze neue Lesarten, denn „... das archäologische oder stratigraphische Bild kann zur gleichen Zeit gelesen und gesehen werden. Wenn die Bilder sich nicht mehr auf natürliche Weise verketten, wenn sie zeigen, dass falsche Anschlüsse und Einstellungswechsel systematisch verwendet werden [...], dass sich die Einstellungen selbst drehen oder umkehren und dass ihre Wahrnehmung eine beträchtliche Anstrengung des Gedächtnisses und der Imagination, anders gesagt, eine Lektüre, erfordert.“Gilles Deleuze | Das Zeit-Bild – Kino 2 | Suhrkamp | 1997

Diese Lektüre der nicht auf natürliche Weise verketteten Bilder und der falschen Anschlüsse ähnelt Farockis Vorstellungen der „soft montage“, in welcher es durch die vergleichende und asynchrone Projektion im Nebeneinander einer „Augenarbeit“ bedarf, um einen Sinn aus den Bildern zu extrahieren. Diese Produktion neuer Anschlüsse durch den Betrachter sieht auch Deleuze als, „eine Funktion des Auges, eine Wahrnehmung der Wahrnehmung [...]. Kurz was wir als Lektüre des visuellen Bildes bezeichnen, ist seine stratigraphische Beschaffenheit, die Umkehrung des Bildes und der korrespondierende Akt der Wahrnehmung, der unablässig die Leere in Fülle verkehrt und Vorderseite und Rückseite vertauscht. Lesen heißt: Bilder neu verketten, nicht nur verketten, es heißt Bilder drehen, umkehren, statt bloß der Vorderseite zu folgen: eine neuartige Analytik des Bildes.“Deleuze | 1997
Hier äußert sich die Deleuzes’ Kino-Bücher durchziehende Vorstellung einer in der Rezeption zusammenfallenden Immanenz von Film und Denken. Natürlich ist der stratigraphische Eindruck – die Tiefe der Filmbilder – Straub und Huillets – insbesondere durch die Verwendung von analogem Film und dessen Materialeigenschaft des Abdrucks, ein ganz anderer Zugang als die digitale Fensterästhetik von Henderson und Abbas/Abou-Rahme. Die Tektonik liegt hier eher in der formalen und offensichtlichen Ästhetik der Mont age. Während Farockis Doppelprojektionen und verschränkte Bildfenster auf einer Geste des Zeigens basieren und durch eine Logik des Vergleichs funktionieren (nach wie vor von einem dialektisch geschulten Auge ausgehend), sind die digitalen Bilder-Anhäufungen vielmehr von einer Überforderung, einem Exzess und einer sensorischen Sensationalität geprägt. Das macht diese Arbeiten nicht nur gegenwärtig-reflexiv, sondern verweist zugleich auf die Tatsache, dass wir mit dem Lesen der gleichermaßen von Oberfläche und Tiefe geprägten stratigraphischen Bilder vertraut sind.

Die Montage im Nebeneinander ist schon längst in der alltäglichen Lektüre des medialen Raums aufgegangen. Der gegenwärtige stratigraphische Impuls ist so vielmehr mit der Frage der Produktion von Bildern, als mit der Lesart der Schichtungen beschäftigt, für welche sich Deleuze bei Straub/Huillet interessiert. Fraglich bleibt, ob die Ästhetik der digitalen Layer nicht doch nur ein formaler Effekt des Gegenwärtigen ist, oder ob sich dabei Potentiale einer anderen Ästhetik der Montage verstecken, die den gegenwärtigen Sehgewohnheiten und visuellen Blickregimes gerecht werden und neue Sichtbarkeiten produzieren?

“A montage must hold together
with invisible forces
the things that would otherwise
become muddled.”Harun Farocki | Cross Influence / Soft Montage | One Image doesn’t take the place of the previous one. Leonard & Bina Ellen Art Gallery | Concordia University | 2008
—HARUN FAROCKI