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ÜBER EINE ÄSTHETIK DER LANGSAMKEIT IN BEWEGTBILDERN

Andrei Tarkovsky schreibt „I think what a person normally goes to cinema for is time“Tarkovsky | 1989 und Alain Resnais argumentiert „Cinema is the art of playing with time“Sweet | 1981. Während Zeit in Videokunst und Experimentalfilmen oft selbst thematisiert wird, neigt das klassische Unterhaltungskino dazu, Zeit zu negieren. Die Geschwindigkeit ist einer der Faktoren, die Arthouse- und Videokunstproduktion von zeitgenössischen Blockbustern unterscheidet. Diese haben durchschnittlich mehr als 3000 Schnitte in 90 Minuten, was weniger als 2 Sekunden pro Einstellung ausmacht. So kommt zum Beispiel „Resident Evil 2“ (2004) auf eine durchschnittliche Einstellungslänge von nur 1,64 Sekunden. Ganz im Gegensatz dazu gibt es in Andy Warhols Experimentalfilm „Sleep“ (1963), der seinen Freund fünf Stunden und 20 Minuten beim Schlafen zeigt, gar keinen Schnitt. Wie verändern langsame Bewegtbilder unsere Rezeption? Und welche KünstlerInnen und FilmemacherInnen sind untrennbar mit Langsamkeit verbunden? Zunächst soll aber die historische Entwicklung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten betrachtet werden.

Das frühe Kino spiegelte zunächst die mit der Industrialisierung einhergehende zunehmende Geschwindigkeit des kollektiven Pulses widervgl. Sukhdev | 2012. Schnitt und Montage versinnbildlichen den schnellen Rhythmus des modernen Lebens. In den 1960er Jahren schien die Geschwindigkeit nicht mehr der radikale Faktor zu sein – im Gegenteil: Schnelligkeit wurde dafür verantwortlich gemacht, die Gesellschaft geistig abzustumpfen und sie der Logik des Markts zu unterwerfen. In einer Ästhetik der Langsamkeit fanden FilmemacherInnen eine avantgardistische Ausdruckmöglichkeit. Langsamkeit fungiert als Ausdruck von Misstrauen gegenüber kultureller Standarisierung auch als politisches Konzeptvgl. Sukhdev | 2012.
Deleuze bezeichnet das Kino nach dem zweiten Weltkrieg als „Zeitbild“, welches er vom „Bewegungs-Bild“ der Vorkriegszeit differenziertvgl. Deleuze | 1991. Im Zeitbild steht nicht das Nacheinander von Bewegung im Vordergrund, sondern Gleichzeit igkeit und St et igkeit , womit die Zeit im Film hervorgehoben wird.

Der Italienische Neorealismus markiert für Deleuze die Krise des fortschreitenden Erzählmodus. Er nennt als Beispiel „Umberto D.“ (1952) von Vittorio De Sica: Das Hausmädchen Maria befindet sich in der Küche und verrichtet gewöhnliche Handlungen, wie Saubermachen und die Tür schließen, als ihr Blick auf ihren schwangeren Bauch fällt, „als ob darin das ganze Elend der Welt wüchse“vgl. Deleuze | 1991. Der Italienische Neorealismus (ca. 1943-52) entwickelte sich als Reaktion auf den Faschismus in Italien und beeinflusste die französische Nouvelle Vague der späten 1950er und 60er Jahre, die sich ebenfalls für eine direkte Erforschung von Dauer interessiert. So implementierte Jean-Luc Godard in „Week End“ (1967) eine siebenminütige Kamerafahrt entlang eines Staus, ohne Schnitt, was die Temporalität der Szene verräumlicht.
Auch FilmemacherInnen des Experimentalfilms interessieren sich ab den 1960er Jahren für die „rein optische Situation“vgl. Deleuze | 1991, d.h. für die direkte Erkundung von Zeit, während die Handlung in den Hintergrund tritt.
Michael Snow zoomte in „Wavelength“ (1967) 45 Minuten lang durch ein Apartment bis der Zoom auf einem Foto mit Meeransicht endet . In dem Film gibt es kaum Handlung, und selbst als ein Mann tot zu Boden fällt , geschieht es mit solcher Beiläufigkeit, als wäre nichts passiert. Andy Warhol filmte acht Stunden das Empire State Building in „Empire“ (1964), der schwarz- weiße 16mm-Stummfilm zeigt das Gebäude aus nur einer Perspektive. Die Erforschung von Zeit kann durch vielfältige Techniken erreicht werden: Hyper Slow Motion, Duration, Vermeiden von Montage. Hyper Slow Motion bezeichnet Zeitlupenaufnahmen, die in der Regel mit einer Hochgeschwindigkeitskamera gedreht und/ oder in der Nachbearbeitung so ausgedehnt werden, dass sich das Bild nur unmerklich verändert.vgl. Rebentisch | 2003 Das „Duration piece“ zeigt aus einem statischen Standpunkt einen fast gleichbleibenden Sachverhalt.

Sowohl die Verlangsamung von Echtzeit, als auch unbewegte Ein- stellungen langer Dauer vergegenwärtigen die Rezeptionszeit. Insofern derartige Arbeiten im Kunstkontext gezeigt werden, zielen sie nicht darauf ab, in ihrer Gesamtheit wahrgenommen zu werden – ihre Werk – dauer ist nicht abschätzbar. Die Rezeptionsdauer wird vom Publikum selbst bestimmt, in dem Wissen, dass bei Verlassen der Installation ein Teil des Bewegtbildes versäumt wirdvgl. Rebentisch | 2003. Zeitdehnende Arbeiten erinnern an unbewegte Bilder traditioneller Ausstellungsräume, doch bei dem Verlassen der Installation oder bei Fokusverschiebung auf räumliche Elemente, kann sich die Arbeit signifikant verändern.vgl. Groys | 2001 Diese Unklarheit betont die geringsten Modifikationen des Bewegtbildes. Die Annäherung des Bewegtbildes an das Standbild betont also deren Ungleichheit.vgl. Rebentisch | 2003
Walter Benjamin vergleicht die Rezeptionsbedingungen von statischer Kunst, wie beispielsweise Gemälden, die Bet racht erInnen zur beschaulichen Betrachtung animiere und Film, der aufgrund des schnellen Wechsels der Motive nicht dazu bewege.vgl. Benjamin | 1974 In Bewegtbild- Arbeiten, die Dauer direkt darstellen, laufen diese beiden Rezeptionsmodi zusammen: Trotz Bewegung der Bilder, ist die Geschwindigkeit reduziert genug, um eine kontemplative Rezeption zu ermöglichen.vgl. Benjamin | 1974 Die Entschleunigung fungiert als kritisches Medium, das zeitliche und räumliche Erfahrungen intensiviert. Kaum bewegte Bilder ermöglichen Kontemplation und fungieren als Strategie der Distanzierung. Lang- samkeit ist eine zeitgenössische Strategie, die (all)gegenwärtige Geschwindigkeit zu reflektieren.vgl. Koepenick | 2014

WER SIND DIE VERTRETERINNEN EINER ÄSTHETIK DER DAUER?

Während unter dem Terminus „Slow Cinema“ in den Filmwissenschaften überwiegend europäische FilmemacherInnen wie Theo Angelopoulos, Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, Robert Bresson, Andrei Tarkovsky und Chantal Akerman als Vorläufer diskutiert werden, sind auffällig viele FilmemacherInnen der nachfolgenden Generation nicht westlicher Herkunft: Sie kommen aus Mexiko – Carlos Reygadas, Thailand – Apichatpong Weerasethakul, von den Philippinen – Lav Diaz oder aus Taiwan/Malaysia – Tsai Ming-Liang. Dies mag damit zusammenhängen, dass „their work is often infused with a respect for religious and spiritual notions of time“.vgl. Sandhu | 2012
Gegen die Annahme, dass sich westliche FilmemacherInnen mit Entschleunigung schwertun, sprechen Pedro Costa (Portugal), Béla Tarr (Ungarn) und Šarūnas Bartas (Litauen). Im zeitgenössischen europäischen Avantgardekino ist außerdem die „Berliner Schule“ (seit Mitte 1990er Jahre) zu nennen, auch wenn sie sich selbst davon distanziert, langsam zu sein.vgl. Decker | 2006 Angela Schanelec erforschte in „Marseille“ (2004), was passiert, wenn die Kamera einfach weiterläuft. Das Ergebnis sind nur 75 Schnitte, was mit der Wirkung einhergeht, „dass sich die Atmosphäre in der Zeit quasi auszudehnen beginnt, dass die Bilder wachsen.“vgl. Decker | 2006

Gerade das Minimalistische, Beobachtende und die oft reduzierte Handlung, die den Arbeiten der genannten VertreterInnen gemein ist, führen zu kontemplativer Wahrnehmung, die tendenziell eher der Rezeption von Kunst als Kino zugeschrieben wird. Im Bereich Videokunst haben sich Bill Viola und Douglas Gordon wiederholt in ihren Bewegtbild- Installationen mit einer Ästhetik der Langsamkeit auseinandergesetzt.
Zentrale Themen in Violas Œuvre sind Bewusstwerdung und elementare menschliche Erfahrungen wie Geburt, Tod, Liebe. Seine Videoinst allat ionen sind of t von einer t ranszendent alen Qualit ät geprägt , die sich aus seinem Int eresse für Zen-Buddhismus und christlichen Mystizismus speist.vgl. Kunstmuseum Bern | 2014 Viola verwendet Super Slow Motion, um das Mystische von menschlichen Gesten, Mimiken und emotionalen Verfasstheiten zu erforschen.vgl. Koepenick | 2014 Die extremen Zeitlupenaufnahmen in Arbeiten wie „The Greeting“ (1995), „The Passions“ (2003) und „Ocean Without a Shore“ (2007) fungieren als Technik radikaler Reduktion, als Mittel, das Nebensächliche vom Essentiellen abzustreifen. So zeigt er z.B. in „The Quintet of the Astonished“ (2000) den sich entfaltenden Gesichtsausdruck von fünf Schauspielern in Super Slow Motion, sodass jedes Detail der sich verändernden Mimiken nachvollziehbar wird. Die starke Zeitdehnung schafft eine traumartige Atmosphäre und macht gleichzeitige Abläufe sichtbar.

Douglas Gordon fokussiert in seinen Bewegtbild-Inst allationen auf zeitliche Parameter und die Erwartungshaltung des Publikums. In seinem Installation „24 Hour Psycho“ (1993) hat er Hitchcocks „Psycho“ (1960) auf vierundzwanzig Stunden ausgedehnt. Das Kontinuum des Films zerbricht in autonome Bilder,vgl. Royoux | 1999 der größere Handlungszusammenhang wird für die Gegenwart des Augenblicks eingebüß.vgl. Dinkla | 2004 Aufgrund der Verschiebung vom Bewegtbild zum Standbild erhöht sich die Ge- wichtung jedes Frames. Die Handlung interessiert nur mehr peripher und die Bilder rücken in den Fokus. Der dem Medium Film immanente Illusionscharakter wird offenbar, indem die Bewegtbilder durch die Geschwindigkeitsreduktion in Einzelbilder zerfallen.vgl. Frohne | 2006 In seinem Nach- folgeprojekt „5 Year Drive-By“ (1995) eignet sich Gordon John Fords „The Searchers“ (USA, 1956) mit noch extremeren zeitlichen und räumlichen Parametern an. Die Arbeit ist nicht nur am Drehort des Films – in der Wüstenlandschaft Twentynine Palms in Kalifornien – installiert, sondern auch auf die Zeitspanne der Diegese von „The Searchers“ – auf fünf Jahre – ausgedehnt. Eine Filmsekunde wird so zu 6,64 Stunden, was den Handlungszusammenhang nicht mehr nachvollziehbar macht. Gordons Arbeiten sind eine „Rückübersetzung eines medial kodierten Zeitmaßes auf eine an natürlichen Abläufen gemessen Temporalität“.vgl. Frohne | 2011

Genau diese Reduk t ion der (all)gegenwär t igen Bilder flut , diese Entschleunigung der Hochgeschwindigkeitsbilder, die all den genannten Arbeiten gemein ist, ermöglichen Freiraum für selbstständiges Denken und Kontemplation. Die Zeitbilder fordern zur Ergänzung des Gesehenen mit eigener Gedankenaktivität auf. Der Vorgang der Sinnerzeugung fungiert so als eigentlicher (Anti-)Motor einer Ästhetik der Langsamkeit.